Gestern ist heute nicht vorbei

Letzte Woche habe ich hier im Blog den Gedenkstein und Gedenkbaum für die in der Landesfrauenklink gestorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen vorgestellt. Die Geschichte, die hinter der Entstehung des Gedenksteins steckt, zeigt anschaulich, dass die Vergangenheit noch lange nicht vergessen und „vorbei“ ist und Bedeutung für die Gegenwart, ja auch die Zukunft hat. Und sie zeigt, wie die Beschäftigung mit Altem neue Brücken schlagen kann. Beim Studium alter Operationsbücher der Wuppertaler Landesfrauenklinik (heute St. Anna-Klinik) im Archiv des LVR fanden sich zum eher abstrakten, unpersönlichen Schlagwort „Zwangsarbeiterinnen“ erstmals Namen und die Anfänge, Bruchstücke einer Biografie. Dann kam über die ukrainische National Stiftung ein Kontakt zustande und man wusste, hinter welchen dieser Namen sich heute noch lebende Frauen verbergen. Eine erste Besuchsgruppe kam im März 2006 nach Nordrhein-Westfalen und nach Wuppertal, wo zwei der drei Frauen ihre Kinder in der Landesfrauenklinik entbunden hatten und die andere geboren worden war. Aus den Namen und biografischen Daten wurden Menschen aus Fleisch und Blut, mit Stimme, Blickkontakt und lebhafter Erinnerung an die Zeit in Wuppertal. Aus dem vagen und abstrakten Begriff Zwangsarbeiterinnen wurden Personen und Persönlichkeiten mit ihrer eigenen, anrührenden Geschichte, die nicht in Daten, Zahlen und Begriffen erstickt, sondern voller Lebendigkeit Details, Gedanken und Erinnerungen erzählt.
Bewundernswerter Weise machte der LVR weiter und lud weitere Zwangsarbeiterinnen ein und besuchte sie selbst in ihrer ukrainischen Heimat.  Aus alldem entstand eine (Wander-)Ausstellung, die nun seit dem 4.Dezember dauerhaft im Ganztagsgymnasium Johannes Rau zu Hause ist und aus der nun eine Internetseite geworden ist, auf der jeder die Geschichten der Frauen, die in Wuppertal Mütter wurden, teilweise ihre Kinder verloren und unter äußerst harten Bedingungen arbeiten mussten, nachlesen und nachhören kann: www.riss-durchs-leben-t.lvr.de/
Die Ausstellung wiederum weckte das Interesse von Schülern des Ganztagsgymnasium Johannes Rau, die daraufhin die AG Ukraine gründeten. Sie forschten und fanden eine Partnerschule in der Ukraine (die Schule Nr. 10 in Chmelnyzkyj), mit der man zusammen an der Recherche und Aufarbeitung der schmerzlichen, gemeinsamen Geschichte arbeitete. In der Partnerschaftsurkunde wird erklärt:

„Unsere Zusammenarbeit beabsichtigt unsere Jugendlichen aufgrund der
Erkenntnisse aus der Geschichte und Diskussionen  über die Probleme der
Gegenwart einander näherzubringen. Mit der Wahrung der historischen
Erinnerungen über die komplizierten und widersprüchlichen Ereignisse der
Vergangenheit soll unserer Überzeugung nach Freiheit, Menschenwürde und
gegenseitiger Respekt in einer multikulturellen globalisierten Welt
gewährleistet werden.
Hiermit bekunden wir unsere Absichten, mit historischen Quellen und
Zeitzeugen zu arbeiten sowie die Kulturen unserer Völker kennenzulernen.
Die Kooperation  zielt auf gegenseitige Besuche unserer Schulen und thematisch bedeutsamer  historischer Orte.
Wir hoffen, dass unsere Freundschaft zur Weiterentwicklung unserer
Zivilgesellschaften als einer Gemeinschaft von freien Bürgern in Europa
beitragen wird.“

Im November 2012 reisten die Schüler zum dritten Mal in die Ukraine und forschten diesmal dort an 105 Feldpostbriefen deutscher Soldaten, die in einem zerstörten Postamt zurückgeblieben waren und seitdem ungeöffnet in einem ukrainischen Gebietsarchiv ruhten. Dabei haben die SchülerInnen bewundernswert präzise, einfühlsam und mit viel Engagement Geschichte erarbeitet und präsentieren die Ergebnisse ebenfalls online: Gestern ist heute nicht vorbei
Doch auch damit ist es nicht vorbei. Mit ihrer Arbeit haben die SchülerInnen und der LVR in der Ukraine viel Aufmerksamkeit für ein verdrängtes, fast vergessenes Thema geweckt und mit großem Echo hat man in den ukrainischen Medien auf die Arbeit der SchülerInnen reagiert. Denn in der Ukraine wurden die zurückkehrenden Zwangsarbeiter oft keineswegs wie entführte und geschundene Mitbürger behandelt, sondern wie Kollaborateure mit dem Feind der Sowjetunion.
Hier und dort werden weiter Fragen gestellt und zusammen Antworten gesucht. Denn Gestern ist heute noch nicht vorbei. Morgen vielleicht.

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